Schon mal gesehen?
Beim sogenannten Déjà-vu-Erlebnis haben wir das Gefühl, die Situation, in der wir gerade stecken, exakt so schon erlebt zu haben. Wie kommen wir auf solche Ideen? Die Forschung rätselt ...
Das kenn' ich doch!
Ist Ihnen das auch schon passiert? Ein Ort, an dem Sie noch nie zuvor gewesen sind, eine wildfremde Person oder ein Augenblick Ihres Lebens, der doch gerade erst begonnen hat, kommt Ihnen in allen Einzelheiten bereits vollkommen vertraut vor? Dann hatten Sie ein Déjà-vu- oder, schlicht auf Deutsch gesagt, ein „Schon mal gesehen"-Erlebnis.
Und das ist längst nicht so ungewöhnlich, wie es zunächst klingt. Umfragen zur Folge haben nämlich mindestens 50 % Ihrer Mitmenschen (anderen Befunden nach sogar über 90 %!) dergleichen schon mindestens einmal erlebt.
Wer hat Déjà-vu-Erlebnisse?
Das Phänomen Déjà-vu tritt nach den bisherigen Forschungsergebnissen bei Männern und Frauen gleichermaßen häufig auf. Jüngere Menschen berichten davon jedoch öfter als ältere. Und auch so vollkommen unterschiedliche Faktoren wie ein höheres Einkommen, ein höherer Bildungsabschluss, eine ausgeprägte Reiselustigkeit, die Fähigkeit, sich gut an Träume zu erinnern sowie ein politisch liberales oder ein ausgeprägt spirituelles Weltbild scheinen das Auftreten dieses ungewöhnlichen Erinnerungsvorgangs zu begünstigen. Oder sie erhöhen zumindest die Bereitschaft, darüber zu sprechen.
Doch was steckt dahinter? Dazu existieren in der aktuellen Forschung sehr verschiedene Erklärungsansätze - die einander oft kräftig widersprechen!
Botschaften aus anderen Welten?
Parapsychologen und Esoteriker interpretieren Déjà-vus gern als hellseherische Träume, Erinnerungen an frühere Leben oder als Botschaften aus dem Jenseits. Die offizielle Wissenschaft hält dem jedoch verschiedene weniger mystische Erklärungen entgegen.
Nach dem Altmeister der psychologischen Zunft, Sigmund Freud (1856-1939), bringen sich durch Déjà-vu-Erlebnisse – wie durch so vieles - frühkindliche Traumata zum Ausdruck. Auch verdrängte Fantasien wurden als Ursache für die wunderliche Vertrautheit mit dem noch nie Gesehenen vermutet.
Die moderne Forschung des 21. Jahrhunderts sieht im Déjà-vu jedoch zunächst einmal eine ausgezeichnete Möglichkeit, die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses generell besser zu verstehen. Doch zu der Frage, was da denn nun genau wie funktioniert – dazu gibt es momentan noch fast ebenso viele Theorien wie Wissenschaftler, die daran arbeiten. Zurzeit ungefähr 30 verschiedene.
Von der Grundrichtung her lassen sich jedoch grob zwei Positionen voneinander abgrenzen: Die einen halten Déjà-vus durchaus für eine spezielle Form der Erinnerung; die anderen jedoch schlicht für den blanken Selbstbetrug - beziehungsweise für eine kurzfristige Fehlschaltung im Gehirn, die auf ein zeitweiliges Kooperationsproblem zwischen verschiedenen Hirnregionen zurückgeht.
Einfach nur eine kleine Fehlkopplung im Gehirn?
Neurologische Messungen haben nämlich ergeben, dass bei einem normalen Erinnerungsvorgang immer zwei verschiedene Bereiche des Gehirns zusammenwirken: Zuerst wird in der Region des Schläfenlappens, dem Zentrum des bewussten Erinnerns, nachgeprüft, ob ein Gesicht, ein Ort, ein Gegenstand oder eine Situation bei uns bereits als bekannt „abgespeichert" ist. Dann aber identifiziert ein ganz anderer Bereich unseres Gehirns, nämlich der Scheitellappen, das Wahrgenommene ausdrücklich als bekannt und vermittelt uns dabei ein Gefühl der Vertrautheit.
Bei entsprechenden Laborversuchen nun stellte sich heraus, dass bei Déjà-vu-Erlebnissen immer nur ein Teil dieses Teams aktiv ist, und zwar ausschließlich der Scheitellappen. Ohne Gegenprobe im Archiv des tatsächlich Erlebten wird das Gefühl der Vertrautheit hier also im Alleingang ausgelöst.
Die Theorie, dass Déjà-vus – genau wie Halluzinationen - nichts mit der Realität zu tun haben, sondern dass es sich hier schlicht um einen kleinen „Ausrutscher", eine zeitweilige Panne im Stoffwechsel des Gehirns handelt, unterstützen auch Untersuchungsbefunde wie die, dass Déjà-vu-Erlebnisse sehr häufig bei großer Müdigkeit, in unmittelbaren Anschluss an extreme Stresssituationen oder unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen auftreten – also immer dann, wenn sich das Gehirn in einem Ausnahmezustand befindet. Sie gehen zudem häufig auch epileptischen Anfällen voraus, die ursächlich mit einer Irritation des Schläfenlappens zusammenhängen.
Bröckchen verschütteter Erinnerungen?
Andere Wissenschaftler aber denken durchaus, dass Déjà-vu-Erlebnisse auf ganz reale Erinnerungen zurückgehen. Diese sind jedoch nur noch unbewusst im Riesenspeicher unseres Gehirns präsent. Doch wie alt sind diese Erinnerungen? Schon hier scheiden sich die Geister erneut, denn das Lager der Forscher, die in diese Richtung denken, teilt sich weiter in Kurzzeit- und Langzeittheoretiker auf.
Letztere meinen: Vieles von dem, was wir vor langer Zeit erlebt haben, haben wir scheinbar vergessen. Es steht jedenfalls nicht mehr greifbar im aktuellen „Arbeitsspeicher" unseres Gehirns für uns bereit. Doch solche Erinnerungen können durchaus jederzeit wieder abgerufen werden, und zwar durch besondere Auslöser, zu denen vor allem spezielle sinnliche Reize wie eine bestimmte Musik oder ein Geruch gehören, der für uns früher einmal eng mit einer sehr vertrauten Situation verbunden war. Dadurch wird die verschüttete Erinnerung wieder wachgerufen– und dann als Déjà-vu gedeutet.
Zum Beispiel so: Frau Mind sitzt nichtsahnend in dem schicken neuen Café, das gestern erst eröffnet wurde. Die Musikbox spielt einen Schlager aus den 1960ern. Und plötzlich hat Frau Mind das Gefühl, den Raum, alle Anwesenden und den Geschmack ihrer Mokkatorte – kurz: die komplette gegenwärtige Situation schon einmal exakt so erlebt zu haben. Schuld daran ist aber nur der alte Schlager. Denn der war früher das Lieblingslied ihrer Eltern, Frau Mind hat ihn als Kleinkind fast täglich gehört. Und jetzt, mehr als 50 Jahre später, löst ein einzelner kleiner akustischer Bestandteil der damals sehr, sehr vertrauten Lebenssituation in ihr das Gefühl eines vollkommenen Wiedererkennens aus – und Frau Mind hat ein Déjà-vu-Erlebnis.
Gerade eben erst gesehen?
Die Déjà-vu-Kurzzeittheoretiker dagegen sagen: Wir erinnern uns beim Déjà-vu an etwas, was wir erst wenige Augenblicke zuvor unterschwellig wahrgenommen haben. Diese Theorie basiert auf dem Phänomen der selektiven Wahrnehmung, das besagt: In jedem bewussten Augenblick unseres Lebens erfassen wir die Situation nicht in all ihren Einzelheiten, sondern wir konzentrieren uns nur auf das, was uns daran hier und jetzt gerade besonders wichtig erscheint.
Ein Beispiel? Herr Braininger starrt gerade mit geballter Ungeduld auf die Ampel: Wann wird es endlich grün? Ich hab's eilig! Den Passanten, die neben ihm auf dem Bürgersteig vorbeikommen oder den Auslagen der Geschäfte drumherum schenkt er weiter keine Beachtung. So entgeht ihm – scheinbar - auch die Frau im grünen Kostüm, die ihren Chihuahua spazieren trägt. Wenig später steht dieselbe Frau i jedoch im Supermarkt vor ihm an der Kasse – und Herrn Braininger beschleicht das wundersame Gefühl, sie irgendwie schon seit Ewigkeiten zu kennen ...
Aber speziell bleibt's doch!
Welche Forschungsrichtung hat nun recht? Laborversuche, bei denen Déjà-vu-Erlebnisse künstlich erzeugt wurden, haben bisher - je nach Ansatz - sowohl die Richtigkeit der „Fehlkopplungs"- als auch die Richtigkeit der „Unbewusst abgespeichert"-Theorie bestätigt. Das entscheidende wissenschaftliche Aha-Erlebnis zum Déjà-vu-Erlebnis steht also noch aus.
Und so bleibt ihm wohl noch ein Weilchen die Aura des Geheimnisvollen erhalten ... Und so kann es uns, wenn es eintritt, noch ein Weilchen das traumhaft anmutende Gefühl geben, gerade etwas ganz, ganz Besonderes zu erleben; das vielleicht ja doch eine sehr spezielle, irgendwie überirdische Botschaft für uns persönlich enthält?
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Bei dem Text, den Sie gerade gelesen haben, handelt es sich um eine aktualisierte und ergänzte Version eines im Auftrag der Kieler Werbeagentur WortBildTon GmbH entstanden Artikels, der 2008 in der April-Ausgabe des mein coop Magazins erschienen ist.